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Fausto Paravidino
Geflügelschere

Deutschsprachige Erstaufführung

Premiere: 09. Oktober 2004. 20 Uhr, TASCH 2

Fotos link |

Besetzung:
Inszenierung -
Bühne und Kostüme -

Dramaturgie -
Regieassistenz -
Soufflage -
Luisa Brandsdörfer (Gast)
Ilka Kops (Gast)

Jürgen Sachs
Julia Schüßler
Kerstin Reinsberg
Geflügelschere

Darsteller:
Marco - Markus Klauk | 1. Fremder/1. Polizist/Verteidiger/Arzt/2. Richter - Gabriel Spagna | 2. Fremder/2. Polizist/Gefängniswärter/Arzt/1. Richter - Ulrich Wittemann a.G. | Chiara - Barbara Schwarz

Technische Leitung - Fred Bielefeldt | Beleuchtung - Susann Förster | Requisite - Margarita Belger | Maske - Grit Anders | Inspizienz - Ito Grabosch | Ton - Ronald Strauß | Garderobe - Elisabeth Müller | Schneiderei - Eva Nau, Gisela Schmidt, Claudia Siebenborn

Stück:

1. Wovon handelt das Stück?
A Marco wartet auf den Freispruch
B Marco wird irre
C Marco serviert zwei Espressi

2. Wer ist Marco?
A Opfer
B Täter
C Verrückter

3. Wer liebt wen?
A Chiara liebt Marco
B Die Ärzte lieben die Wahrheit
C Der Verteidiger liebt seine Frau

4. Was ist das Mordinstrument?
A Pistole
B Worte
C Verständnis

5. Warum soll man sich das anschauen?
A Es ist eine Komödie
B Es ist eine Tragödie
C Es ist die Realität oder ein Traum

Sie können irgendwas gewinnen. Wahlweise die Geflügelschere.
Luisa Brandsdörfer

Marco, ein unbescholtener junger Mann, steht gleich am Anfang als Mörder da, obwohl er das Opfer gar nicht kennt. Kurz nacheinander hatten sich zwei Fremde in seine Wohnung gedrängt und ihn in Gespräche verwickelt, bis der erste den zweiten plötzlich und scheinbar grundlos niederschoss und verschwand.

Was wie ein makabrer Scherz beginnt, entwickelt eine bitterböse Eigendynamik. Denn egal, wen Marco nun trifft, niemand zieht seine Unschuld überhaupt nur in Betracht. Stattdessen dichtet ihm jeder ein passendes Tatmotiv an. Und schon bald kann auch Marco selbst nicht mehr anders, als an seine Schuld zu glauben...

Fausto Paravidino, 1976 in Genua geboren, zählt zu den meistgespielten neuen Autoren. „Geflügelschere“ wurde 1999 in Rom uraufgeführt und im deutschsprachigen Raum bisher noch nicht gespielt.


Pressestimmen:

Theaterheute 01/05

Sättigungsbeilage Fausto Paravidinos Erstling «Die Geflügelschere», zur deutschen Erstaufführung gebracht in Marburg

VON JÜRGEN BERGER

Mit dem Gerät zerkleinert der Jäger und Sammler zumeist Hühnchen. Der Kiefer ist schwach, das Handwerkzeug aber willig. Nun ist es allerdings nicht so, dass der Held in Fausto Paradivinos Erstling aus dem Jahr 1997 Kannibalisches im Sinn hat, wenn er gleich zu Beginn sagt, er werde die Leiche wohl mit einer Geflügelschere zerkleinern, dann eine Hälfte einfrieren und den Rest auf der Müllhalde entsorgen. Marco Parodi ist ein Mann ohne Leidenschaften und reagiert auf den plötzlichen Toten in seinem Wohnzimmer wie andere auf einen Brief reagieren, den sie schon lange erwartet haben und dessen Inhalt sie bereits zu kennen meinen. So gesehen kommt es auch nicht von ungefähr, wenn Parodi später von zwei Gefängnispsychologen gefragt wird, ob er sich jemals einen Mixer gewünscht habe. Mit dem Mixer verarbeitet der zahnlose Fleischfresser seine Nahrung zu Brei. Als breiig kann man auch Parodis Gemütsverfassung zu Beginn des Stücks bezeichnen, wenn der erste Fremde vor seiner Tür steht. Er lässt den Mann umstandslos rein, ohne zu wissen, was er eigentlich will. Dann lässt er auch noch einen zweiten Fremden rein, geht in die Küche Kaffee kochen, kommt zurück und ist nicht wirklich erschüttert, wenn der zweite Fremde den ersten ganz offensichtlich erschossen hat. Paravidino präsentiert ein surreales Experiment und lässt einen Menschen in Abgründe stürzen, der eigenschafts und reaktionslos an immer neuen Tiefpunkten des Lebens anlangt. Egal, ob Parodi nun vor Gericht, im Gefängnis oder in der forensischen Psychiatrie landet, er ist immer ein perfektes Opfer, weil er sich geradezu als Täter aufdrängt. Vom Pflichtverteidiger bekommt er das richtige Täterprofil und vom Psychologen die Vita zum Fall verpasst. Dann sitzt er die Strafe für eine Tat ab, die er nie begangen hat, um am Ende ganz selbstverständlich heim zu seiner Chiara zu gehen, die in schwerer zeit immer zu ihm stand. In der Zwischenzeit ist aus ihm allerdings ein Zeitgenosse mit Rückgrat geworden. Da passt es ganz und gar nicht, dass der wirkliche Täter wieder auftaucht und die Tat gesteht. Parodi reklamiert den nicht begangenen Mord für sich. Wer lässt sich schon gerne ein unter derart widrigen Umständen erworbenes Rückgrat rauben?

Paravidino hat mit der «Geflügelschere» allerdings kein existenzialistisches Drama, sondern eine aus dem verbalen Slapstick geborene Komödie geschrieben. Man fühlt sich entfernt an sein jüngstes, bei der Wiesbadener Biennale vorgestelltes Stück «Stillleben in einem Graben» erinnert. Auch da geht es um eine Leiche und die vermeintliche Aufklärung des Verbrechens. In beiden Fällen setzt Paradivino sich von den Stücken ab, mit denen er bei uns bekannt wurde: «Genua 01» und «Peanuts». Es ist also ganz interessant, mit der deutschen Erstaufführung der «Geflügelschere» an den Ausgangspunkt des europäischen Dramenwunders zurückzukehren und einen Fausto Paradivino kennen zu lernen, der ein Theater abseits aktueller politischer Verwerfungen pflegt.

Surreale Lakonie

Paradivino war gerade mal 21, als er scheinbar ganz locker punktgenaue Dialoge schrieb. Locker ist denn auch das Stichwort für die deutsche Erstaufführung der «Geflügelschere» am Landestheater Marburg. Luisa Brandsdörfer, die seit Abschluss ihres Frankfurter Regiestudiums vorwiegend im Hessischen tätig ist und auch in Gießen und Darmstadt inszeniert, macht nicht den Fehler, das Stück mit Bedeutung zu imprägnieren. Sie setzt auf surreale Lakonie und inszeniert in einem Bühnenbild (Ilka Kops), das alleine schon mit seinem hellen Himmelblau im Hintergrund den Eindruck erweckt, hier sei nichts wirklich real. Gabriel Spagna drapiert sich zu Beginn effektsicher als Leiche auf dem Boden, steht aber schnell wieder auf und verschwindet hinter der himmelblauen Kulisse, da er zusammen mit Ullrich Wittemann noch in unterschiedlicher TwinGestalt erscheinen wird. Die Beiden sind nicht nur die Fremden, die sich beim Herrn Parodi als Mörder und Opfer verabredet haben. Sie sind auch Psychologen, Gefängniswärter, Richter und wirken dabei immer wie geklonte Zwillingswesen. Es ist also verständlich, dass Marburgs Mann ohne Leidenschaften auf der Bühne steht, als wisse er nicht, in welche Welt er geraten ist. Markus Klauk spielt den Parodi als realitätsfernen Träumer, und Luisa Brandsdörfer absolviert den ParavidinoParcour in zügigen neunzig Minuten. Genau so lange trägt das Stück auch.


Marburger Neue Zeitung Mittwoch, 13. Oktober 2004

Gelungene Premiere im Hessischen Landestheater Marburg

Deutsche Erstaufführung der „Geflügelschere“ überzeugte

Von Michael Marten Marburg. Das Bühnenlicht erlischt, das Stück ist aus. Betretene Sekunden des Schweigens vergehen. „War es das?“ fragt sich das Publikum. „Das war`s!“. Langsam setzt der Applaus ein. Zu ergriffen ist der Großteil der 120 Zuschauer im „Tasch 2“ von dem, was ihnen neunzig Minuten lang vorgeführt wurde. Als die vier Schauspieler die Bühne betreten wird es richtig laut im applauserfüllten Saal. Das Publikum erlebte am Samstag Abend im hessischen Landestheater Marburg die gelungene deutsche Erstaufführung des Stücks „Geflügelschere“ von Fausto Paravidino in der Inszenierung von Luisa Brandsdörfer.

Fausto Paravidino, 1976 in Genua (Italien) geboren, zählt zu den meistgespielten neueren Autoren. „Geflügelschere“ wurde 1999 in Rom unraufgeführt. Jetzt hat sich die Frankfurter Regisseurin Luisa Brandsdörfer des Stoffes angenommen und das Stück als Gast in Marburg inszeniert. Im Mittelpunkt der Handlung steht Marco (Markus Klauk), ein junger, unbekümmerter und ansatzweise naiver Mann. Ohne erkennbaren Grund wird er in seiner Wohnung von zwei Fremden besucht. Die Dialoge sind witzig und spritzig und man glaubt sich in einer Komödie. Doch weit gefehlt. Während Marco in der Küche Kaffee kocht, erschießt der eine Fremde den anderen ohne ersichtlichen Grund und verschwindet. Marcos Freundin Chiara (Barbara Schwarz) betritt die Wohnung und sieht sich mit der Leiche konfrontiert. Marco gerät in Erklärungsnot und steht in den Augen seiner Freundin als Mörder da. Die Polizei wird gerufen, untersucht den Tatort, verwechselt Namen und Personen, und nimmt Marco schließlich als Tatverdächtigen mit. Was wie ein makabrer Scherz beginnt, entwickelt eine bitterböse Eigendynamik. Egal mit wem er spricht, ob Rechtsanwalt, Gefängniswärter oder den Psychiatern, niemand zieht Marcos Unschuld überhaupt in Betracht. Statt dessen dichtet ihm jeder ein passendes Tatmotiv an. Marco kann schließlich nicht mehr anders, als an seine Schuld zu glauben.Paolo, der flüchtige wahre Mörder, wird von den Psychiatern zur dunklen Seite von Marco bestimmt. „Das ist wie bei einem Kind, das eine Vase zerschlägt, für sich selber die Vase aber gar nicht kaputt gemacht hat“, überzeugt der Doktor den Unschuldigen von seiner Schuld.Nach Jahren in der Psychiatrie wird Marco als geheilt entlassen. Er heiratet seine Chiara und man will eine Familie gründen. Das Paar hält zusammen, weil es sich gegenseitig mit der Aufarbeitung und Bewältigung der ureigenen Ängste gegenseitig therapiert. Plötzlich trifft Marco den Mörder Paolo auf der Straße. Paolo will sich für das, was Marco widerfahren ist, entschuldigen, doch Marco erkennt Paolo nicht als Mensch an, sondern als Spiegelbild seiner Seele und deren dunkler Seite. „Ich habe meine Schuld erkannt und akzeptiert“, sagt Marco in der Gewissheit, ein Selbstgespräch zu führen. Er vertreibt die dunkle Seite seiner Seele mit den Worten „Verschwinde, wir hätten beide nur zu verlieren!“. Neben den Protagonisten Markus Klauk und Barbara Schwarz überzeugten Gabriel Spagna und Ullrich Wittemann in zwölf verschiedenen Charakteren durch ihre Wandlungsfähigkeit. Die Natürlichkeit von Barbara Schwarz als Chiara rundet die gelungene Umsetzung des surreal-dramatischen Stoffs ab. Brandsdörfers Entscheidung, die vielen Rollen auf nur vier Schauspieler zu reduzieren und zu konzentrieren war mutig, aber aus dramaturgischer Sicht richtig. Das Stück ist dazu geeignet, das Sprechtheater neu zu entdecken.


Oberhessische Presse

Zerbrechliche Unsicherheit Wenn niemand zuhört, kommt die Wahrheit leicht abhanden

Marburg. Was ist Wahrheit? Eine schwierige Frage. Beantwortet wird sie nicht im italienischen Stück „Geflügelschere“, das aber auf sehr eindrückliche und unterhaltsame Art. von Gabriele Neumann

Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst in der Premiere der „Geflügelschere“. Mit sicheren Schritten auf der schrägen Rampe der Bühne entgehen die Darsteller in der deutschen Erstaufführung dem Abgleiten in moralinsaure Sozialkritik.

Luisa Brandsdörfer hat das Stück des jungen italienischen Autors Fausto Paravidino inszeniert. Die Ausstattung stammt von Ilka Kops.

Am Anfang glaubt man noch, die Sache müsste sich doch leicht aufklären lassen. Na gut, der junge Mann Marco (Markus Klauk) ist ein wenig unsicher, sonst hätte er die beiden Fremden nicht nacheinander in seine Wohnung gelassen.

Der erste war aber auch dreist. Ließ sich nicht an der Tür abwimmeln. Der zweite war zwar freundlicher, aber ebenso nebulös. Marco hörte noch nicht einmal den Schuss.

Er stand in der Küche und kochte Kaffee, als Fremder Nummer Eins, Paolo Ferri, den Fremden Nummer Zwei erschoss und ging. Nun steht er da – mit Kaffee und Leiche und ohne Erklärung.

Niemand glaubt ihm, nicht einmal seine Freundin Chiara (Barbara Schwarz). Aber noch schlimmer, niemand hört ihm zu. Nicht die Polizisten, die den Tatort untersuchen, nicht sein Verteidiger und auch nicht die Psychiater, die schließlich ein Gutachten über sein Beharren auf Paolo Ferri als Täter anfertigen sollen.

Das alles geschieht auf der Bühne im Theater am Schwanhof ohne Ablenkung durch unnötiges Mobiliar. Zwei Türen gibt es, eine davon als Durchbruch im Horizont an der Bühnenrückwand.

Eine Rampe führt zum Horizont. Darauf agiert Markus Klauk als herausragender Mann des Abends. Er verleiht Marco eine zerbrechliche Unsicherheit, die Mitgefühl heraufbeschwört.

Wenn sein Verteidiger (Gabriel Spagna) im roten Samtanzug buchstäblich eine Blume aus dem Hut zaubert, um die Gerichtsverhandlung zu beeinflussen, ist man versucht, mit Marco zu verzweifeln.

Klauk überzeugt, gerade weil er auf große Gesten verzichtet. Dazu hätte er im Angesicht der Mühlen der Justiz wohl allen Grund. Zwei Psychiater spielen dabei eine Sonderrolle. Sie stehen für die Bigotterie der Gesellschaft, die alles verstehen will, und der doch vieles gleichgültig ist.

Bildlich überhöht auf Stelzen befragen sie den Angeklagten – eine von vielen tiefgründig witzigen Ideen in Brandsdörfers Inszenierung. Dazu gehört auch das „Häuten“ des zweiten Fremden, Ullrich Wittemann, einem jungen Darsteller von der Kunsthochschule Frankfurt.

Kaum erschossen, steigt er aus dem Anzug, der als „Leiche“ liegen bleibt. Umziehen ist Pflicht für Wittemann, der wie Spagna in jeweils fünf Rollen zu sehen ist.

Als Marco nach einem Zeitsprung von neun Jahren mit Ehefrau Chiara vor der Bühne steht und längst eingesehen hat, dass Paolo Ferri nur seine dunkle Seite war, da schließlich möchte man mit ihm weinen. Bis Paolo wieder erscheint ...

Mit langanhaltendem Applaus bedankten sich die Zuschauer im ausverkauften Theater. Die „Geflügelschere“ kommt wieder: Heute und morgen ab 20 Uhr im TASCH.


Marburger Forum

Bevor das Hessische Landestheater am nächsten Samstag (16. Oktober) sein ehrgeiziges Projekt „Schiller Spielplan“ startet, bringt es als deutschsprachige Erstaufführung ein zeitgenössisches Stück, das Erstlingswerk des jungen italienischen Erfolgsautors Fausto Paravidino, (geb. 1976) auf den Spielplan.

Paravidino packt brisante Themen an: Menschenrechtsverletzungen, Weltwirtschaftsgipfel 2001 in Genua, wo es bei Demonstranten und Polizisten 500 Verletzte und einen Toten gab, die Politiker und Banker für „Peanuts“ halten, und so heißt auch sein von „Theater heute“ zum besten ausländischen Stück des Jahres 2003 gewähltes Drama.

Geflügelschere. Schon der Titel macht neugierig: Wer oder was wird hier zerlegt werden, fragt man sich. Denn „die Geflügelschere ist ein Arbeitsgerät, mit dem man gegartes oder ungegartes Geflügel zerlegt“, sagt schon das Wörterbuch.

Die Handlung ist schnell erzählt. Ein junger, irgendwie unsicherer Mann, Marco, (hochkonzentriert und verhalten gespielt von Markus Klauk) öffnet auf Klingeln die Tür zu seiner Wohnung. Herein kommt ein irgendwie fürchterlicher Mensch in einem fürchterlichen gelben Rollkragenpullover, drängt sich auf, nervt und verhält sich unverschämt raumgreifend. Wehe dem, der sein Territorium nicht verteidigt. „Schmeiß ihn raus! Sonst wirst du gegrillt“, denkt der Zuschauer noch, aber Marco kocht stattdessen Espresso für den Fremden. Marco sagt: “Ich möchte nicht unhöflich oder unpassend sein.“ Und schon kommt noch eine zweite Person in die Wohnung. Marco leistet keinen Widerstand mehr, geht in die Küche, macht noch einen Espresso. Derweil erschießt der zweite Fremde den ersten. Marco bleibt zurück, mit einer Leiche im Flur. Jetzt klingelt auch noch Chiara, Marcos Freundin und Marco weiß genau, dies hier wird er keinem erklären können. Was jetzt? Die Absurdität des Geschehens evoziert absurde Gedanken: “Ich leg ihn in die Badewanne. Ich nehme die Geflügelschere, zerteile die Leiche in Teile. Friere die eine Hälfte ein und die andere Hälfte schicke ich deiner Mutter.“, sagt Marco zu Chiara, die aber lieber die Polizei ruft.

Bleibt man bei der Geflügelscheren-Vorstellung, lässt sich das Nachfolgende auch so beschreiben: Zwei Polizisten (Gabriel Spagna und Ullrich Wittemann) kommen in dicken Mänteln mit Kojak-Hütchen und nehmen Marco von zwei Seiten in die Zange, so dass er unweigerlich im Gefängnis landet, wo er den Psychiatern und Richtern sozusagen „serviert“ wird. Marco ist das Hühnchen und die Geflügelschere schneidet gnadenlos weiter. Der Verteidiger verteidigt niemanden, er ist vielmehr Conferencier des Treibens. Am Ende des Stücks steht nur noch ein menschliches Gerippe auf der Bühne, von dem die Institutionen jetzt gesättigt ablassen können.

Den Epilog platziert Paravidino neun Jahre nach der „qualvollen Psycho- und Prozesskiste“, wie Marco retrospektiv das Ungeheuerliche nennt. Der Protagonist berichtet jetzt gemeinsam mit seiner irre lächelnden Verbündeten Chiara (Barbara Schwarz) im Therapeuten-Jargon dem Publikum von der schönen Gemeinsamkeit ihrer „Ängste und Probleme“ und vom „Mut, das Glück zu suchen.“ Eine starke Szene. Der eigentliche Mörder kehrt sodann wieder ins Spiel zurück und gesteht Marco seine Tat. Aber diese Realität interessiert Marco nicht mehr. „Sie sind meine dunkle Seite und ich war stärker... Sie sind ein Konstrukt meiner Phantasie. Die Instanz um Schuld abzuladen.“ Marco wurde zwischenzeitlich offensichtlich erfolgreich umgepolt und festgelegt auf das, was man ihn glauben gemacht hat. In verzweifelter Geste beschwört Marco schließlich sein neues „Glück“. Der Fremde muss gehen. Aber er trägt jetzt das gleiche Hemd wie Marco am Anfang des Spiels. Das nächste Hühnchen ist offenbar bereit.

Die Ensemble-Leistung der jungen Spieler ist beachtlich. Gabriel Spagna und Ullrich Wittemann geben jeweils fünf Rollen und glänzen vor allem als Psychiater, die auf hohen Eisenstelzen laufen, diese dann nach Feierabend mühevoll abschnallen, um wie zwei Kinder an einer „Caprisonne“ zu nuckeln und Zauberwürfel zu spielen. Gabriel Spagna überzeugt aber besonders als Verteidiger, den Ilka Kops (Bühne und Kostüme) mit rotem Samtanzug, Lackschühchen, Zauberstab und Zylinder ausstattet. Kops hellblauer Bühnenhintergrund aus Papier lässt auf eine rissige Wirklichkeit schließen. Luisa Brandsdörfer hat Marcos Geschichte nämlich wie einen Alptraum inszeniert, dem man als Zuschauer, manchmal wie durch Watte gesehen, folgt. Sie verzichtet auf Plakatives und das ist gut so. Die innertextlichen Anspielungen auf „Einer flog über das Kuckucksnest“ reichen hier aus, zumal eine ausgesprochen eindrückliche Vorstellung des gleichnamigen Stücks von Dale Wasserman vor zwei Jahren im Theater im Schwanhof (Inszenierung: Ekkehard Dennewitz, s. die Rezension im Marburger Forum) noch manchem Zuschauer präsent sein wird.

In Geflügelschere wird man gefordert, selbst „merkwürdige Antworten auf normale Fragen oder normale Antworten auf merkwürdige Fragen“ zu geben und länger nachzudenken, etwa über einen der letzten Sätze Marcos: „Ich kam mir vor wie ein Kind, das eine Vase zerschlagen hat. Erst war ich das Kind, dann die Vase.“ Das Theaterstück spielt mit den Assoziationen, die um den zentralen Begriff Geflügelschere kreisenund hat eine einfache Botschaft: Ihr Menschen, die ihr alle wie die Hühnchen auf den Stangen sitzt, passt bloß auf!

„Warum soll man sich das anschauen?“ fragt Luisa Brandsdörfer im Programmheftchen. Weil ein sehr junger Autor, der dieses parabelhafte Stück mit 21 Jahren schreibt, eine Menge zu sagen hat, ist zumindest eine Antwort. Schiller war erst 18, als er „Die Räuber“ anfing. Mit 22 Jahren hatte er einen überwältigenden Erfolg damit. Das war 1782.

Die nächsten Vorstellungen: 12., 13. und 29. Oktober 20.00 Uhr TASCH 2.

Erika Schellenberger-Diederich


Frankfurter Rundschau

Warum hat er das getan?
Das Landestheater Marburg zeigt ein extra-frühes Stück des jungen Fausto Paravidino
VON JUDITH VON STERNBURG

Geflügelschere ist ein frühes Stück des ohnehin jungen Dramatikers Fausto Paravidino. Inzwischen ist er 28 und wird mit Peanuts durch die deutschen Theater gereicht, damals, 1997, war er 21. Geflügelschere, zwei Jahre später von Paravidino selbst in Rom inszeniert, hat Spuren einer Lockerungsübung für Jungautoren und eines Bilderbuchtheaterstückes: Konstellation, Durchspielen der Konstellation, Überraschungscoup, Vorhang. Das Hessische Landestheater in Marburg, das sich die deutschsprachige Erstaufführung sicherte, zeigt es auch so - eine groteske Situation, ein grotesker Fortgang, ein Knaller und Schluss. Anderthalb Stunden dauert das, auf einer der Schwanhof-Studiobühnen, die sich das fleißige Theater fern der ein wenig schaurigen Stadthalle glücklicherweise vor Jahren als Spielort organisiert hat.

Ilka Kops hat hier eine Saharalandschaft eingerichtet, mit einer gelben Düne und einer Himmelstüre blau auf blau: eher der Ort einer Verrücktheit als der eines Albtraums, und das ist auch der Ton, den Regisseurin Luisa Brandsdörfer anschlagen lässt. Es geht auch beklemmender, aber so geht es auch. Vorerst ist dies die Wohnung von Marco - Markus Klauk, ein Buster-Keaton-Typ - still für sich hin, bis eines Tages ein Fremder an der Tür klingelt und sich zum Kaffee einlädt. Bald taucht ein zweiter Fremder auf, sehr merkwürdig das. Als Marco noch einen Kaffee kochen geht, erschießt der erste Fremde den zweiten Fremden und zieht Leine. Im Folgenden geht es um die Frage: Warum hat Marco das getan?, so lange, bis Marco das auch gerne wüsste.

Denn Paravidino erzählt neben einem Krimi die Geschichte einer gut funktionierenden Gewaltanwendung. Gabriel Spagna vor allem, als erster Fremder, Polizist, Windei von einem Verteidiger, kann das zeigen: die Brutalität des Faktensetzers, der es nicht einmal nötig hat, unhöflich zu werden. Mit Ullrich Wittemann ist er das Kriminalistenduo oder das mittels Stelzen ulkig verlängerte Psychiaterteam. Wittemann ist dabei immer der etwas Freundlichere und darum auch der Gefängniswärter, mit dem Marco plaudert und angelt. Barbara Schwarz spielt Marcos aparte und eigentlich nette Freundin Chiara. Sie steht voll zu ihm, obwohl er ein Mörder ist.



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