Abstandhalter Abstandhalter Abstandhalter

hintergrund
hintergrund
Home link | Archiv (Produktionen bis 2010) link | Impressum link
Abstandhalter hintergrund




Vier deutschsprachige Autoren
2CK

Premiere: 16. Februar 2002, TASCH






Lukas Bärfuss
Martin Heckmanns

Marius von Mayenburg
Theresia Walser

2CK



Pressestimmen:

Oberhessische Presse

Der Bus
Finnisch

Marburg. Das Hessische Landestheater Marburg startete am Samstag mit dem Projekt „2CK“ ins neue Jahr. Gleich vier Premieren bot es am Samstagabend dem Marburger Publikum an. von Christine Krauskopf Zugegeben, „Der Bus“ ist kein seichtes und schon gar kein leichtes Stück. Die Vorlage des Schweizer Autors Lukas Bärfuss ist ungeheuer dicht, fast jeder Satz bietet reichlich Stoff für eine heftige Diskussion. Ständige Wandlungen der Figuren und Wendungen in der Handlung lassen es kaum zu, Charaktere glaubhaft zu entwickeln. Es bleibt keine Zeit, die Aussagen wirken zu lassen. Vielleicht ist das so gewollt. Zum Inhalt: Wie kommt es, dass Gott Erika den Auftrag gibt, am Tag der Heiligen Sophie im polnischen Tschenstochau bei der schwarzen Madonna zu sein und sie dann in den falschen Bus steigen lässt? Einen Bus, der von dem Grobian Hermann gefahren wird und von kränkelnden Menschen besetzt ist, die vorgeben, auf dem Weg in ein Kurhotel zu sein? Dramatische Szenen spielen sich mitten im Wald ab. Hermann lässt Erika keine Chance, denn sie bedroht seine ordentliche Welt und - noch schlimmer - seine Pünktlichkeit. Er dreht ihr jedes Wort im Mund um und zeigt seine Stärke auch ohne Not mit brachialer Gewalt, indem er sie schlägt und ihr die Hand bricht. Nur, wie spielt man eine Gläubige, eine junge Frau, die nach der Vorlage das Zeug zu einer Heiligen haben soll? Demütig und mit verklärtem Blick? Selbstsicher im Glauben verwurzelt und voller Hoffnung? Inbrünstig betend? Regina Leitners Spiel blieb unter der Regie von Karl Georg Kayser unentschieden, als habe der Glaube Erikas Emotionen gefesselt. Erst als sie sich schnapsgefüllt an Anton, den Öko-Tankwart, lehnt, taut sie auf. So schnell, wie sie ihre Religion aufgibt, so schnell fließt Leben in ihren Körper und macht sie überzeugend menschlich. Noch schwerer hatte es Nicolas Deutscher als Hermann, der im Stück vom groben Klotz zum Gläubigen mutieren soll. Es gelang ihm nur ansatzweise. Auch Jasmin (Ulrike Knobloch) und „Die Dicke“ (Anne Berg) hatten sich zu drehen. War Erika ihnen von Gott geschickt worden? Wenn Erika etwas Besonderes ist, sind sie es dann nicht auch? Es bleibt ihnen schließlich egal, sie würden ohne Skrupel sogar einen Mord an Erika in Kauf nehmen. Gut besetzt war die kleine Rolle des feigen Karl mit Peter Meyer. Mit unaufdringlicher, natürlicher Präsenz beteiligte sich Daniel Sempf als Anton samt Klampfe, Tanksäule und Schnapsflasche am Spiel. Der desillusionierte Aussteiger bleibt zunächst auf Distanz, entwickelt dann aber eine herzliche Wärme zu Erika und bietet ihr mit seinen Zukunftsplänen eine echte Alternative zum Glauben. Was dem „Bus“ an Esprit fehlte, bekam das Publikum mit „Finnisch“ von Martin Heckmanns im Überfluss. Regisseur David Gerlach, Dramaturgin Mareike Götza und natürlich Sascha Oliver Bauer als junger Mann holten noch den allerletzten Funken Spaß aus dem Stück heraus, das sich sicher auch ernst hätte spielen lassen. Ein junger Mann sehnt sich nach dem Lächeln, das die schöne Postbotin auf das Gesicht eines Alten im Seniorenheim gegenüber gezaubert hat, als sie dort ein Paket ablieferte. Drum schickt sich der Single selbst ein Paket und spielt in Gedanken die erste Begegnung durch. Die gedachte Kommunikation gerät zum humorvollen Monolog, den Bauer mit viel Slapstick zu einer Art Stand-up-Comedy veredelte. Er trödelt in Pyjama und Schlappen vor sich hin, rollt mit den Augen, guckt mal lachend, mal ernst, mal verschmitzt, mal herrlich blöde ins Publikum, kämpft mit dem Laken und zieht es wie Peanuts-Linus hinter sich her, ruft laut und flüstert leise, spricht langsam, mal schnell, lacht offen und grinst still vor sich hin. Bauer bedient sich wunderbar ungeniert aus dem ganzen, großen Repertoire der menschlichen Gefühle und nutzt jeden seiner 26 Gesichtsmuskeln so für seine Mimik, dass es ein großer Spaß ist. Seine ungebändigte Freude am Spiel steckte die Zuschauer an. Nicht zuletzt waren es die musikalischen Akzente, die Pianist Oliver Blüthgen setzte und die witzigen Accessoires - wie die aufblasbare Ente, die Badekappe, der störrische Klapp-Sonnenstuhl -, die eine unbeschwerte Atmosphäre im Tasch II schufen. Berichte über „Der Hässliche“ und „Die Liste der letzten Dinge“ folgen morgen.

Der Hässliche und
Die Liste der letzten Dinge

Marburg. Das Hessische Landestheater Marburg lud am Wochenende zu vier Premieren ins Tasch ein (die OP berichtete). von Franziska Lüdtke Ein Stück für drei Frauen schloss am Samstagabend das Premierenquartett des Hessischen Landestheaters ab. Theresias Walsers „Die Liste der letzten Dinge“ besticht durch subtilen Witz, klar gezeichnete Figuren, originelle Sprachbilder und genau die richtige Menge Absurdität. Bei aller Unterhaltsamkeit lässt der Text keine eindeutige Interpretation zu und bleibt gerade durch seine Rätselhaftigkeit spannend. Das Bühnenbild (Regie und Ausstattung: Anna-Lena Kühner) ist denkbar einfach: Auf einem flachen Podest stehen zwei hölzerne Malerleitern. Vorn links am Bühnenrand eine schwarze Blechtonne. Helen (Christine Reinhardt) und Pia (Franziska Knetsch) haben sich an diesem Nicht-Ort eingefunden, um die Welt von sich zu erlösen. Aber vorher erwarten sie noch den Inquisitor, um letzte Dinge mit ihm zu klären. Helen und Pia _brauchen einanderHelen sieht sich als weit gereis_te Dame von Welt und hat in einem Koffer voller Kleider ihre Vergangenheit mitgebracht. Die robuste Pia hat nur einen kleinen Rucksack mit Bier dabei. Helen war verheiratet mit einem Mann, dessen Zehennägel sie schnitt und dessen Gedanken sie angeblich lesen konnte. Pia lebte allein, aß Schnittchen zum Abendbrot und hatte ausschließlich Briefverkehr mit lebenslänglich eingesperrten Mördern. Die beiden kennen sich seit langem sehr gut. Jede missbilligt ganz offen den Lebensstil der anderen und genau deswegen brauchen sie einander. Gemeinsam ist ihnen nur das Bedürfnis, sich auf dem Scheiterhaufen selbst zu opfern. Die Harmonie der Unterschiedlichkeit wird empfindlich gestört, als mit Giorgina (Juliane Nowak) eine dritte Figur auftaucht, die sich nicht in Helens und Pias Spiel hineinziehen _lässt. Christine Reinhardt und Franziska Knetsch verkörpern ihre Figuren überzeugend. Sehr nuanciert zelebrieren sie die ritualisierten Streitgespräche der beiden Frauen, in denen boshafte Nadelstiche und spöttisches Verständnis eng beieinander liegen. Die Inszenierung hält sich eng an die Vorgaben der Autorin. Zwar sind die Figuren als Charaktere klar erkennbar, doch gibt es keinen Versuch, seitens der Regie, die von der Autorin aufgeworfenen Fragen zu interpretieren. Die Parallelen zu Becketts „Warten auf Godot“ sind nicht zu übersehen: Auch „Die Liste der letzten Dinge“ ist ein Spiel mit dem Warten auf einen Unbekannten, dessen Erscheinen die Voraussetzung für Erlösung ist. Doch anders als Wladimir und Estragon haben Helen und Pia hohe Ansprüche. Im Laufe des Stückes wird immer deutlicher, dass die beiden scheitern müssen, weil sie nicht bereit sind für den Akt der Erlösung. Beide haben nicht mit ihrer Vergangenheit und den Kleinlichkeiten des Lebens abgeschlossen. Helen schleppt den Ballast ihres Lebens in Form ihres Kleiderkoffers mit zum Scheiterhaufen und wird lieber gewalttätig als sich von ihm zu trennen. Pia kann ihre Faszination für Mörder nicht hinter sich lassen. Am Ende ist die Ankunft des Inquisitors unwahrscheinlicher denn je. Es könnte ja auch sein, dass er schon da war. Marius von Mayenburgs _Farce „Der Hässliche“ hatte am vergangenen Wochenende in einer temporeichen Inszenierung von Uta Eisold gleich zweimal Premiere. Am Samstag war das Stück im ausverkauften neuen Malersaal des Hessischen Landestheaters zu sehen. Am Sonntag zog das Ensemble ins größere Tasch2 um, wo sich die Darsteller problemlos auf den etwas veränderten Aufbau einstellten. Pointierte Farce zum Schönheitswahn„Der Hässliche“ ist eine pointierte Farce zum Schönheitswahn unserer Gesellschaft. Der qualifizierte Ingenieur Lette darf seine Erfindung nicht auf einem Fachkongress vorstellen, weil nach Meinung des Chefs durch seine Hässlichkeit die Verkaufschancen des Produkts gemindert würden. Lette lässt sich operieren und ist danach unwiderstehlich schön. Er macht mit seinem schönen Gesicht zunächst Karriere bis er sich mit unzähligen Doppelgängern konfrontiert sieht, die ihn nach und nach überall ersetzen. Lette stürzt gleichzeitig in eine Berufs-, Ehe- und Identitätskrise. Marius von Mayenburg hat sein Stück für vier Schauspieler in acht Rollen geschrieben und fliegende Szenen- und Rollenwechsel im Text vorgegeben. Uta Eisold hat Mayenburgs Tempo-Vorgabe in ihrer Inszenierung aufgenommen und womöglich noch gesteigert. Die vier Darsteller Matthias Zeeb (Lette), Franziska Endres (Ehefrau, Arzthelferin, reiche alte Dame), Florian Federl (Lettes Assistent, Sohn der reichen Dame) und Bastian Michael (Chef, Chirurg) setzen sie in rasantes, akrobatisches Spiel um. Das Bühnenbild besteht aus einer nur mit rotem Klebeband und drei roten Türrahmen - begrenzten Spielfläche. Ein langer Holztisch und zwei Hocker verwandeln sich blitzschnell in alles Mögliche. Die Schauspieler tragen schwarze Grundkostüme mit farbigen Accessoires wie Gürteln und Krawatten. Wechsel der Kopfbedeckung reichen, um die Rollenwechsel zu signalisieren. Das gesamte Stück über sind alle und alles ständig in Bewegung. Die Inszenierung ist sehr dicht, durch Eisolds ungeheuer effizienten Einsatz einfacher Mittel auf allen Ebenen. Es macht sehr viel Spaß, den herumwirbelnden Schauspielern bei ihren ständigen Verwandlungen zuzuschauen. Besonders brillant umgesetzt ist Lettes Operation, bei der Bastian Michael und Franziska Endres die chirurgischen Handgriffe und verschiedene absurde Operationsmaschinen pantomimisch darstellen. Unterdessen produziert der hinter dem Holztisch verborgene „Patient“ Matthias Zeeb mit „Beat Box Technik“ die dazu gehörigen Geräusche. „Der Hässliche“ wirkt wie ein lebendig gewordener Zeichentrickfilm, so treffend sind die sparsam gezeichneten Figuren in ihrer Karikaturhaftigkeit. Die konsequente und kreative Umsetzung des Textes in präzises, körperbetontes Spiel überzeugt in jeder Hinsicht. Gerne mehr davon. Die Premierenberichte zu „Der Bus“ und „Finnisch“ aus der Montagausgabe der OP finden Sie im Internet unter www.op-marburg.de




Marburger Neue Zeitung
19.02.2008

Ein Einsamer träumt von der Nähe

Theater bietet vier Premieren

Marburg (dö/mm). Modernes Theater satt hat das Hessische Landestheater Marburg dem Publikum am Wochenende geboten. Vier Inszenierungen aktueller Stücke junger Autoren an einem Abend gab es im Theater Am Schwanhof (TASCH), wobei die Zuschauer maximal drei davon sehen konnten und sich im Mittelteil zwischen zwei Angeboten entscheiden mussten.

Mit „Der Bus“ stand gleich am Anfang ein komplexes Stück, bei dem der Autor Lukas Bärfuss eine verstörende Groteske um das Thema Glauben geschaffen hat. Eine junge Frau ist angeblich auf Pilgerfahrt und gerät in einen Bus, dessen Insassen aggressiv und verloren zugleich sind – und ihr nach dem Leben trachten. Doch ist sie wirklich so tief gläubig, wie sie vorgibt? Und folgt ihr Zusammentreffen mit der Reisegruppe göttlicher Vorsehung? „Der Bus“ wirft viele Fragen auf und verlangt dem Zuschauer einiges ab. Erschwert wurde der Zugang noch durch die Regie von Karl Georg Kayser, die Zwischentöne über weite Strecken vermissen ließ. Von Anfang an schreien sich die Pilgerin Erika (Regina Leitner) und der Busfahrer Hermann (Nicolas Deutscher) an und schreien dabei über die Nuancen des Textes hinweg. Trotz – oder wegen – der Lautstärke bleiben die Figuren schwach. Der Absurdität und dem Hintersinn der Dialoge hätte mehr Ruhe gut getan. Bezeichnenderweise wecken vor allem die ruhigeren Szenen, wenn Erika und der versoffene Tankwart (Daniel Sempf) beieinander sind, das Interesse. Etwas angestrengt und irritiert verließ man den Theaterraum, um im nächsten dann das Bonbon des Abends serviert zu bekommen. Nicht weniger vielschichtig, aber mit sehr viel mehr Leichtigkeit kam „Finnisch“ von Martin Heckmanns daher. Ein junger Mann wartet auf die Postbotin. Er hat sich selbst ein Paket geschickt, um sie kennen zu lernen. Jetzt denkt er darüber nach, was diese Kontaktaufnahme bedeuten könnte, träumt vom Sich-Verstehen, von Hautkontakt und Gesprächen. Sascha Oliver Bauer verkörpert den Wartenden mit soviel Wärme, Zartheit und einer gewissen Verlorenheit, dass man ihn sogleich ins Herz schließt. Leicht und nie seicht hat Regisseur David Gerlach den nahezu tänzerischen Monolog in Szene gesetzt, setzt den Protagonisten zwischendurch mitten ins Publikum und lässt sein Alleinsein umso klarer hervortreten. Zusätzliche Akzente setzt die Klavierbegleitung durch Oliver Blüthgen, der ganz ohne Worte seinen Kommentar zu Grübeleien des Protagonisten abgibt. Trotz sanfter Melancholie und der Befürchtung, dass es wohl nichts werden wird mit der Postbotin, ist man am Ende wie bezaubert von Stück und vor allem dem hinreißenden Darsteller. Parallel zu „Finnisch“ lief „Der Hässliche“ von Marius von Mayenburg in einer Vorpremiere im Malsaal des Theaters. Am folgenden Abend war die Inszenierung von Uta Eisold dann auf der Bühne des TASCH zu sehen. Ingenieur Lette (Matthias Zeeb) hat eine Steckdose entwickelt. Weil er aber so hässlich ist, darf nicht er sondern sein Assistent Karlmann ( Florian Federl) das neue Produkt vorstellen. Lette sucht den Schönheitschirurgen Scheffler (Bastian Michael) auf, der ihm mit brachialer Gewalt ein neues Gesicht verpasst, um das er von allen Menschen beneidet wird. Für Lette beginnt ein tolles neues Leben. Die Probleme treten auf, als immer mehr Menschen das gleiche Gesicht bekommen.

Junge Darsteller können in modernen Stücken überzeugen

Uta Eisold hat mit ihrer jungen Schauspielertruppe ein sehr lebhaftes, humorvolles Stück auf die Bühne gebracht. In einem atemberaubenden Tempo agieren die vier Darsteller auf der Bühne, klettern auf Tische, Hocker und Türen, prügeln sich und legen zirkusreife Akrobatik hin. Das Stück lebt von seiner hohen Dynamik. Gerne hätte man nach einer Pause mehr davon gesehen, aber die gibt es nicht.

Statt dessen „Die Liste der letzten Dinge“ von Theresia Walser, der Tochter des Schriftstellers Martin Walser. Die beiden Protagonistinnen Pia (Franziska Knetsch) und Helen (Christine Reinhardt) wollen die Welt von sich erlösen, ein Zeichen setzen. Vor ihren Scheiterhaufen warten sie auf den Inquisitor, bestärken sich in ihrem Vorhaben, lassen ahnen, was sie dazu treibt. Doch statt des Inquisitors erscheint eine seltsam unbeteiligt wirkende Frau, die erst Projektionsfläche und schließlich Opfer wird. Die beiden in einem leeren Leben gefangenen Frauen sind auf makabre Weise aktiv geworden, zu brennen scheint gar nicht mehr vonnöten. Gastregisseurin Anna-Lena Kühner zeigt zwei verlorene Seelen, die von Großem träumen. Christine Reinhardt verleiht ihrer Figur mit viel Routine Konturen, Franziska Knetsch überzeugt mit ihrer Verkörperung der förmlich in sich selbst gefangenen Pia, deren soziale Kontakte im Briefverkehr mit Lebenslänglichen bestehen und die von starken Gefühlen träumt: „Ich mag die Sommer, in denen ein Mörder auf freiem Fuß ist.“ Das Experiment, mit jungen Darstellern und wenig Aufwand junge Stücke auf die Bühne zu bringen, erwies sich als qualitätsvolles und abwechslungsreiches Angebot ans Publikum, dem man die vom Intendanten angekündigte Wiederholung wünscht. In dieser Spielzeit sind die vier Inszenierungen immer im „Doppelpack“ zu sehen: „Der Bus“ und „Finnisch“, „Der Hässliche“ mit „Die Liste der letzten Dinge“.




Gießener Allgemeinen Zeitung

Die heilige Erika und das Warten auf den Inquisitor
Das Landestheater Marburg präsentierte vier zeitgenössische Stücke deutschsprachiger Autoren an einem Abend

Das Hessische Landestheater Marburg ist immer wieder für eine Überraschung gut. So erwies sich der dramaturgische Einfall, vier zeitgenössische Stücke deutschsprachiger Autoren an einem Abend zu zeigen, als brillante Idee. Keine Aufführung dauerte länger als eine Stunde, dazwischen war noch Zeit genug, um sich mit einer Brezel und einem Glas Wein zu stärken. Kein kräftezehrender Vorstellungsmarathon also, sondern die angenehme Bekanntschaft mit neuen Stücken, die vor allem durch ihre gepflegte Sprache und eine Umsetzung auf poetischer Ebene gefielen. Den Anfang machte am Samstagabend im Theater am Schwanhof Lukas Barfuss’ Stück »Der Bus«, 2004 im Hamburger Thalia Theater uraufgeführt. Eine mehrschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema Schein und Sein, Religiösität, Wahn und einer latenten Gewaltbereitschaft, die sich gegen alles richtet, was die vermeintliche Gesellschaft stört. Im Zentrum steht die »heilige« Erika – von Regina Leitner erst unschuldig, dann zupackend gezeichnet –, die in Tschenstochau eine Verabredung mit Gott und der schwarzen Madonna hat, doch dummerweise in den falschen Bus steigt. Als der Fahrer die blinde Passagierin bemerkt, setzt dieser sie kurzerhand mitten im Wald an die frische Luft. Erschreckend, mit welcher Brutalität Nicolas Deutschers Hermann hier zu Werke geht – gar vor einem Mord nicht zurückschreckt, um die lästige, weil andersartige Person zu entsorgen. Doch dann kommt alles anders, als befürchtet, und Erika zeigt ihr anderes Gesicht… Gastregisseur Karl Georg Kayser hat kräftig gestrichen, um die Spieldauer von einer Stunde nicht zu überschreiten. Dennoch können die Figuren sich in ihrer Schrägheit entfalten, das Symbolische des raffiniert gebauten Stückes verfehlt seine Wirkung nicht. Dann durfte das Publikum zwischen zwei parallel gezeigten Aufführungen wählen: Im Tasch II wurde Martin Heckmanns Monolog »Finnisch« in einer Inszenierung des Oberspielleiters David Gerlach geboten, in den neu errichteten Werkstätten präsentierte Uta Eisold ihre Sicht auf Marius von Mayenburgs »Der Hässliche«. Wer sich für letzteres Werk entschied, dem wurde auch des Rätsels Lösung offenbart, warum dieser kompakte Theaterabend mit dem Schlagwort »2 CK« überschrieben wurde. »Finnisch« ist eine hübsche Fingerübung für einen Schauspieler, der gekonnt Betonungen setzen kann und Spaß daran hat, mit des Wortes Sinn zu spielen. Sascha Oliver Bauer beherrscht dieses Metier durchaus raumfüllend. Seine ständig variierenden Gesichtszüge spiegeln gut den inneren Seelenzustand des Mannes wieder, der sich selbst ein Packet geschickt hat, um mit der Postbotin anzubandeln. Ein humorvoller Exkurs über die entscheidenden Worte beim ersten Kennenlernen, der manchmal sogar Slapstick-Qualitäten erreicht und immer adäquat von Oliver Blüthgen am Klavier begleitet wird. Nach diesem amüsanten Ausflug in die Welt eines einsamen Herzens treffen wir auch in Theresia Walsers »Die Liste der letzten Dinge« auf zwei verlorene Seelen, die ihren gemeinsamen Abgang planen. In Erwartung des Inquisitors, der natürlich wie bei Becketts »Godot« nie erscheinen wird, wollen sie brennend auf dem Scheiterhaufen die Welt von ihrer Existenz erlösen. Walsers Stück, erst 2006 am Bayerischen Staatsschauspiel in München uraufgeführt, trägt durchaus Züge des absurden Theaters, die die beiden Protagonistinnen Christine Reinhardt und Franziska Knetsch fabelhaft auskosten. Die beiden Frauen könnten unterschiedlicher gar nicht sein – und sind doch in ihrer Hassliebe aufeinander angewiesen. Anna-Lena Kühner, Studentin der Regie an der Frankfurter Hochschule, symbolisiert den Scheiterhaufen durch zwei Stehleitern, auf die das ungleiche Paar immer wieder wie auf einen Berg der Erkenntnis steigt. Doch als plötzlich die geheimnisvolle Giorgina (Juliane Nowak) erscheint, geraten die beiden aus ihrer mühsam gezimmerten Spur und verlieren gar gänzlich die Fassung… Künftig sind die vier zeitgenössischen Theaterstücke jeweils im Doppelpack zu sehen – eine lohnende Entdeckung, die man nicht versäumen sollte. Marion Schwarzmann




Marburg News

Der Bus

Premieren von vier zeitgenössischen Stücken 17.02.2008 - ute

"In der Welt darf es ungerecht sein, aber nicht in meinem Bus", schreit Busfahrer Hermann die vermeintliche Schwarzfahrerin Erika an. Deswegen legt er ihr auch gleich das Schnitzmesser an den Nacken. Das tut er natürlich nur zum Spaß und, um sie auf die Probe zu stellen. Das Theaterstück "Der Bus" von dem Schweizerischen Autor Lukas Bärfuss feierte am Samstag (16. Februar) im Theater am Schwanhof (TaSch) zusammen mit drei weiteren Stücken Premiere. Schon die von Spannung geladene erste Szene deutet den dramatischen Höhepunkt des Stückes an. Die junge PILGERIN Erika (Regina Leitner) ist auf dem Weg IN DEN POLNISCHEN Wallfahrtsort Tschenstochau, um dort Gottes Auftrag zu erfüllen. Sie steigt allerdings in den falschen Bus ein und gerät in die Hände von Hermann (Nicolas Deutscher) und seiner morbiden Reisegesellschaft (Ulrike Knobloch, Anne Berg und Peter Meyer). Diese Fahrgäste wollen Erika dem Tankwart und Rapsdiesel-Aktivisten Anton (Daniel Sempf) überlassen. Doch Erika weigert sich. Hermann beschließt daraufhin mit der Billigung seiner Reisegäste, mit ihr in die Berge zu fahren. Dort will er sie töten. Was skurril und monströs klingt, wurde vom Regisseur Karl Georg Kayser überzeugend in einer zirka 60 Minuten dauernden Aufführung umgesetzt. Das schlichte Bühnenbild lenkte nicht von den „gewalt(tät)igen“ Dialogen ab, in denen Erika von Hermann und den Reisegästen zur Rede gestellt und geprüft wird und in denen sie in ihrer letzten Station auf den betrunkenen Anton trifft. Gelungen gespielt sind die Charaktere. Als Anton die "Klampfe schlägt" und mit fehlenden Zahn ein Lied anstimmt, ertönt Gelächter aus dem Publikum. Unbehagen breitet sich dann allerdings in dem dreiviertel gefüllten Zuschauersaal aus, als Hermann dabei ist, das Grab für Erika auszuheben. Aber Erika wendet das Blatt. Sie betet mit Hermann, er löst ihre Fesseln. Sie kann fliehen und findet sich letzten Endes bei Anton wieder. Sie betrinkt sich mit ihm. Derweil verunglückt die morbide Reisegesellschaft. Blutüberströmt torkelt Hermann auf die Bühne. Zu Gott gefunden, bittet er Erika, mit ihr nach Tschenstochau zu gehen. Doch Erika stößt in zurück. Sie brüllt ihn mit den Worten an, dass sie eigentlich nur eine Drogenhändlerin sei, die über die Grenze wollte, um Stoff zu besorgen. Kaisers Inszenierung führt gelungen zu dieser "Auflösung" hin. Die Zuschauer waren überrascht und fühlten sich von Erika genauso zurückgestoßen wie von Hermann. Hatten sie vorher noch auf die Befreiung der jungen Frau gehofft, waren sie nun schockiert. Das Stück endet mit der vermeintlichen Pilgerin, die in Tschenstochau vor der schwarzen Madonna steht, um doch noch ihren Auftrag zu erfüllen. Kayser und seinem Ensemble ist es überzeugend gelungen, den kritischen Zeitgeist des Stückes einzufangen. Ein nachdenkliches Publikum wurde zurückgelassen. Im starken Kontrast dazu stand das Stück "Finnisch" von Martin Heckmanns, das sich nach einer kurzen Pause an das erste Stück anschloss. Hier sinniert ein junger Mann (Sascha Oliver Bauer) darüber, was wohl passieren würde, wenn er ein Paket von einer Postbotin entgegen nähme. Er hat es sich selbst zugeschickt, um die junge Frau kennenzulernen. Die Zuschauer brechen in Gelächter aus, als Bauer auf dem Stuhl steht und - mit einem Rettungsring um den Bauch - ein Lied anstimmt. Belustigend und grotesk-skurril wirken die Versuche des jungen Mannes, mit denen er die Begegnung "erprobt". Trotz der guten schauspielerischen Leistung Bauers konnte die Inszenierung von David Gerlach das Publikum allerdings nicht so überzeugen wie die vorangegangene. Die Monologe wirkten oft zu fragmentarisch, die Handlung stellte nicht immer einen Bezug zum Text her, so dass der Zuschauer oft alleine gelassen wurde. Gerade in ihrer Vielfalt sind die Inszenierungen aber in jedem Fall eine gelungene Bereicherung für das Theaterleben in Marburg. Das Team um den Intendanten Ekkehard Dennewitz hat ein gutes Gespür für zeitkritische Theaterstücke bewiesen. Auch das junge, neue Ensemble hat sich bewährt. Es bleibt nur zu wünschen übrig, dass die Inszenierungen - wie erhofft - viele junge Marburgerinnen und Marburger anziehen werden. Verdient hätten alle Akteure es! Ute Schneidewindt - 17.02.2008




Gießener Anzeiger

Warten auf die schwarze Madonna oder die Postbotin
Mit "2 CK" zeigt das Hessische Landestheater Marburg vier zeitgenössische Stücke von Walser, Bärfuss, Heckmanns und Mayenburg

Rüdiger OberschürMARBURG. Eine Pilgerin gerät in den falschen Reisebus und bringt schnell Fahrer und Passagiere gegen sich auf. Von religiösen Prinzipien, von Glauben, Glaubwürdigkeit und Glaubensfähigkeit erzählt der Schweizer Autor Lukas Bärfuss in seinem 2005 in Hamburg uraufgeführten Drama "Der Bus". Den Marburger Stücke-Marathon "2 CK" im Theater am Schwanhof eröffnet dieser "Bus", der in seinem subtilen Gehalt von der Konkurrenz durchaus schwer zu überbieten bleibt. Karl Georg Kaysers Inszenierung weiß die abendländische Symbolik, den bisweilen grotesken Humor und die schillernd kontrastierten Figuren souverän zu bedienen. Die skizzierten, durchaus voluminös anmutenden Charaktere der Bärfuss´schen Figurenlandschaft funktionieren im 60-minütigen Kammerspiel problemlos auf Augenhöhe mit dem Publikum, wenn das Stück auch als Abendfüller dienen könnte. Regina Leitner gibt beim Warten auf die schwarze Madonna eine frech zerbrechliche Erika, Nicolas Deutscher den unerbittlichen Hermann. Zwischen Pathos und Skepsis greift die Regie christliche Zeichenwelten mit dem roten Tuch ironisch auf und erntet ausgiebigen Applaus. Zum zweiten Stück musste der Zuschauer entscheiden: Entweder Marius von Mayenburgs "Der Hässliche" oder Martin Heckmanns "Finnisch". Aufschlussreich für denjenigen, der den "Hässlichen" besuchte. Denn bei Mayenburgs Stück um Erfolg, Schönheit und die Möglichkeiten der plastischen Chirurgie kommt ein ominöser Stromstecker namens "2 CK" ins Spiel, den Intendant Ekkehard Dennewitz und sein Team als kryptischen Titel für das kleine Festival gewählt haben. "Wir wollten ein kleines Rätsel etablieren", erklärt Dennewitz am Rande des Theaterabends. Weniger rätselhaft geht es hingegen in Martin Heckmanns Monolog "Finnisch" zu. "Der Mensch, das sagt sich so einfach", scherzt Sascha Oliver Bauer in der Rolle eines beliebigen jungen Mannes, der sich selbst ein Paket schickt, um an die Postbotin seines Bezirks ranzukommen. In knapp einer Stunde wird sie an seiner Tür klingeln, und bei der nicht sonderlich konstruktiven Vorbereitung auf den Moment des ersten Treffens sieht der Zuschauer Bauer zu. Herrlich, wie er sich zwischen Begehren und Verzweiflung in Rage monologisiert, sich mal in einem Liegestuhl verfängt, Badekappe und Rettungsring anlegt und zum Klavierspiel von Oliver Blüthgen den Heldentenor gibt. Cool, zurückhaltend oder machomäßig, welche Rolle soll er spielen, welche Worte wählen? "Finnisch" ist nämlich nicht nur eine skandinavische Sprache, sondern "heißt im Englischen ja auch so etwas wie Schluss". Je näher der Zeitpunkt der Postlieferung rückt, desto unsicherer wird er. "Vielleicht ist das Gegenüber auch rhetorisch geschult", mutmaßt Bauer und hat die Lacher und alle Sympathie des Publikums auf seiner Seite. Von Glaubens- und Schönheits sowie Liebesdingen ging es zu Theresia Walsers "Die Liste der letzten Dinge", worin ein ungleiches Frauenduo, das entschlossen ist, die Welt von ihrer Gegenwart zu erlösen, die Hauptrollen gibt. Anna-Lena Kühner hat Walser Figurenterzett mit wenigen Requisiten auf die Bühne gehoben, Helen und Pia spielen Christine Reinhardt und Franziska Knetsch. Sie warten auf einen Inquisitor, um letzte Dinge vor der endgültigen Entscheidung durchzugehen. Dabei keimt ihre alte Hassliebe füreinander auf, die Reinhardt und Knetsch herrlich über die Bühne giften. Das in eine Weiberwirtschaft gebeugte "Warten auf Godot" wird jedoch je unterbrochen, als die hübsche Giorgina auftaucht, die Julian Nowak mit bestechendem Minimalismus und kokettem Grinsen spielt. Das Mädchen bringt die lebensmüden Frauen durcheinander, verunsichert sie in ihrer Entscheidung, bis sie sie selbst zum Spielball gewalttätiger Ausbrüche machen. Eine existenzialistische Komödie führt Walser hier vor, ein gefundenes Fressen für wort- und dialoghungrige Schauspielerinnen.




Marburger Forum

Das Hessische Landestheater Marburg

2 CK
Vier zeitgenössische Theaterstücke deutschsprachiger Autoren

Premiere: 16. Februar 2008 im Theater am Schwanhof

Das Hessische Landestheater zeigt vier zeitgenössische Theaterstücke deutschsprachiger Autoren – ein risikoreiches Unterfangen für ein kleines Theater, das um seine Zuschauer, die – so hat es gelegentlich den Anschein – eher die bekannten als die unbekannten Stücke sehen wollen, kämpfen muss. Dass das HLTH Texte von Lukas Bärfuss, Martin Heckmanns, Marius von Mayenburg und Theresia Walser auf die Bühne des TASCH bringt, verdient Anerkennung und Zuschauerinteresse. Längst gehören diese Autoren zu den arrivierten Theaterschreibern, deren Stücke auf den großen und mittleren Bühnen aufgeführt werden. Und auch in Marburg müssten sie jetzt nach dem langen Premierenabend mit vier gelungenen Inszenierungen „angekommen“ sein. Der Abend mit dem eigenartigen Titel „2 CK“ – das Geheimnisvolle des Namens soll hier unaufgelöst bleiben – zeigt, wie vielschichtig moderne Dramen sein können und welche Inszenierungsmöglichkeiten sie enthalten.

Der Bus – Das Zeug einer Heiligen von Lukas Bärfuss

Erika Regina Leitner Hermann Nicolas Deutscher Jasmin Ulrike Knobloch Die Dicke Anne Berg Karl Peter Meyer Anton Daniel Sempf

Inszenierung und Ausstattung Karl Georg Kayser Dramaturgie Annelene Scherbaum

Noch bevor die Scheinwerfer aufleuchten, hört man die Geräusche eines fahrenden Busses, in die sich der grölende Gesang des Schlagers „Hier ist ein Mensch, / schick ihn nicht fort, / gib ihm die Hand …“ mischt. Dann, wenn die Lampen angeschaltet werden, sieht man ein Podest vor der dunklen Bühnenrückwand, die von einem helleren blauen Streifen – einer Kirchenfensterwand nicht unähnlich – durchzogen wird. Eine junge Frau, Erika, wird vom Busfahrer Hermann grob auf die Bühne gestoßen. Sie schreit ihn an: „Wenn ich morgen früh nicht in Tschenstochau bin, gibt es ein Unglück.“

Höchst dramatisch also beginnt Bärfuss´ Stück. Religiöse Überzeugung und religiöser Übereifer treffen auf Unverständnis und Ablehnung beim Busfahrer und den anderen Fahrgästen, und es entsteht ein gefährliches Gebräu aus unvereinbaren Überzeugungen, das zu Drohungen, Einschüchterungsversuchen, Gewaltübergriffen, Unglück und schließlich Tod führt.

Erika behauptet, sie sei versehentlich, aus Übermüdung, in den falschen Bus gestiegen, nicht in den Pilgerbus, sondern einen Bus, der Erholungssuchende in ein Kurhotel in den Bergen bringen soll. Als der Busfahrer, recht spät erst, den Irrtum bemerkt, verlangt er, dass die Polen-Pilgerin aussteigt und zurückbleibt. Erika wehrt sich und besteht darauf weiterzufahren, nach Tschenstochau gebracht zu werden. Wie eine unzeitgemäße Heilige ist sie von ihrer göttlichen Sendung, die keine Widerstände gelten lässt, erfüllt. Auch als ihr Hermann in seiner Grobheit und Brutalität die Hand bricht, lässt sie sich von ihrem Pilgerauftrag nicht abbringen.

Das Stück – und die Inszenierung von Karl Georg Kayser unterstreicht das – bewegt sich zwischen Ernst und Komik, grotesker Übertreibung und Überzeichnung der Situationen und Figuren. Der Bus, so zeigt sich, ist ein Todesbus voller „Mühseliger“ und „Beladener“: Kranker, Debiler, Randfiguren der Gesellschaft. Und der Busfahrer selbst ist jemand, der zwischen seinem alltäglichen Fahrerverhalten und seinen wahnwitzigen Ideen voller Gewalt und religiöser Wunschvorstellungen und einer heimlichen Sehnsucht nach irgendeiner Erlösung hin- und herschwankt. Die Busfahrt wird zu einer Metapher für eine Fahrt aus einem Leben jenseits des Glück irgendwohin, und die Pilgerin zu einem Schicksals-Zufall für die Businsassen. „Ich muss unbedingt zur Schwarzen Madonna, sonst gibt es ein Unglück“ enthüllt sich bald als der dunkel-prophetische Satz einer Frau, die in ihrer fanatischen „Heiligkeit“ Gewalttaten auslöst und alle aus der Bahn wirft.

Die anderen Fahrgäste sehen in Erika, von Regina Leitner als glühend-überzeugte Christin beeindruckend gespielt, eine Störenfriedin, die „ausgemerzt“, umgebracht werden soll. Im letzten Augenblick kann sie entkommen, flieht zu einem etwas komischen, „schrägen“ Tankstellenwart, erkennt bei einem deftigen Saufgelage, als sie seine wohltuende körperliche Nähe spürt, die Verschrobenheit ihrer Tschenstochau-Pläne, gibt sie auf und beschließt, bei dem Tankstellenbesitzer zu bleiben.

Noch einmal wird sie von dem Busfahrer „heimgesucht“. Er hat den Bus, vielleicht aus religiösen Wahnvorstellungen heraus, in eine Bergschlucht gelenkt: Alle sind umgekommen, er allein konnte sich schwer verletzt retten. Er, der vorher die junge Frau mit Gewalt von der Polenreise abgehalten hat, will jetzt im Angesicht des eigenen Todes selbst nach Tschenstochau pilgern: eine verrückte Verkehrung der Verhältnisse des Anfangs.

Aber Tschenstochau, so zeigt die absurd-groteske Schlussszene der Aufführung, kann niemandem Rettung oder Hilfe oder Heil bringen. Alle Figuren sind mit Holzkreuzen vor einem Altar in der Pilgerstadt aufgereiht. Zu einer Andachtsszene kommt es allerdings nicht. Im Gegenteil: Ein Wortgefecht entsteht, bald prügeln sich alle und schreien durcheinander: Ruhe und Frieden wie im Himmel gibt es auf Erden, und sei der Ort noch so heilig, nicht. Tschenstochau ist nichts als eine Worthülse, eine Metapher der Leere und des falschen Scheins, das Ende einer Pilgerfahrt in die Vergeblichkeit und die falsche Utopie.

Kaysers Inszenierung transportiert durch ihre grotesken Momente eine unüberhörbare Botschaft: Heilige schüren mit ihren Totalitätsansprüchen Konflikte, Heiligkeit mit ihrem zynischen und egozentrischen Fanatismus führt zu Tod und Unglück. Die Alternative – ob Erika das mit dem Tankwart gelingt, lässt die Aufführung mehr als offen – könnte eine Hinwendung zum Du sein. „Für die Menschen“, so Bärfuss in einem Interview, „ist nicht Gott die Herausforderung, sondern die anderen Menschen.“ Möglicherweise enthalten diese Worte allerdings ähnlich viel an nicht erfüllbarer Utopie wie der Satz: „Ich muss nach Tschenstochau, sonst gibt es ein Unglück.“

Lukas Bärfuss, 1971 in Thun / Schweiz geboren, wurde für dieses Stück, das im Jahre 2004 am Thalia-Theater in Hamburg uraufgeführt wurde, mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis 2005 ausgezeichnet.

Die Liste der letzten Dinge von Theresia Walser

Helen Christine Reinhardt Pia Franziska Knetsch Giorgina Juliane Nowak

Inszenierung und Ausstattung Anna-Lena Kühner Dramaturgie Jürgen Sachs

Zwischen Bärfuss´ Anti-Utopietext und Walsers „Warten-auf-Godot“-ähnlichem Stück gibt es Parallelen. Wie dort eine Frau als „Heilige“ sich selbst und die anderen erlösen will, wollen sich auch hier zwei Frauen, Pia und Helen, erlösen, sich selbst und die Welt von ihnen erlösen. Die Welt soll durch sie als hell lodernde Fackeln auf zwei Scheiterhaufen aus ihrer Lethargie aufgerüttelt, gemahnt und gebessert werden.

Auf der Bühne stehen zwei Leitern, ihre Scheiterhaufen: eine ist mit Helens rotem Band geschmückt, an der anderen hängt Pias grauer Rucksack. Helen sieht ihrem Tod enthusiastisch entgegen, kann ihr Abbrennen nicht erwarten, drängt immer wieder zur Tat. Pia dagegen zögert, hat Einwände, ist skeptisch, kennt eine „Liste letzter Dinge“, die noch bedacht werden müssen: Ist der Abstand zwischen den Scheiterhaufen richtig? Stört die Flugasche des einen Scheiterhaufens auch nicht die Freundin? Werden sie beide gleich gut brennen?

Christine Reinhardt und Franziska Knetsch verkörpern die beiden Frauen überzeugend, die unterschiedlich in ihrem Wesen und doch „Schwestern im Geiste“ durch ihren grotesk-absurden Scheiterhaufen-Plan sind. Christine Reinhardt, in einem rot, später grün geblümten Kleid, spielt Helen als exaltierte, „aufgedrehte“ Frau, die ständig in ihrem Kleiderkoffer herumkramt, um sich fürs Sterben aufzutakeln. Franziska Knetsch, in braunem Pullover und grauem Rockkleid, ist ihr Gegenpart, verheiratet mit einem lebenslänglich Inhaftierten, vereint mit Helen offensichtlich schon seit vielen Jahren in einer Art Hassliebe: Knetsch und Reinhardt – ein „starkes Paar“ auf der Bühne des TASCH.

Walsers Stück ist eine „schwarze“ Komödie, die eine eigene künstliche Bühnenwirklichkeit schafft, und bei der den Zuschauern das Lächeln auf den Lippen gefriert. „Wenn alle Erlöser die Welt von sich erlösen würden, wäre es eine andere Welt“. Es sind solche absurden, sprachwitzigen Formulierungen und die überdeutlichen Anleihen bei Beckett, die dem Stück eine besondere Qualität geben. – Die beiden Frauen warten auf den Inquisitor, der alles erklären und lösen könnte. Aber er erscheint nicht. Stattdessen tritt zweimal – wie der Knabe bei Beckett – eine geheimnisvolle Giorgina auf. Helens und Pias Erlösungsdrang findet in ihr schließlich ein Opfer. Ihr Wahn schlägt in blinde Gewalt um. Sie glauben, Giorgina gehöre zu einem Fernsehteam, das sie ausspionieren und ihren Tod filmen will, fallen über sie her und erdrosseln sie. Das Schlussbild zeigt zwei Frauen mit verklärten, seligen Gesichtern, die eine Tote in ihrem Schoß halten. – Mit Walsers Stück hat das Hessische Landestheater Marburg eine interessante Aufführung in seinem Programm.

Theresia Walser wurde 1967 geboren. Ihre vielen Theaterstücke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Liste der letzten Dinge wurde 2006 am Bayerischen Staatsschauspiel in München uraufgeführt.

Finnisch von Martin Heckmanns

Ein junger Mann Sascha Oliver Bauer Pianist Oliver Blüthgen

Inszenierung und Ausstattung David Gerlach Dramaturgie Mareike Götza

Heckmanns Stück wurde vor zwei Jahren im Rahmen der „Kinder- und Jugendtheaterwoche“ in Marburg in einer Inszenierung des Saarbrücker „theater überzwerg“ aufgeführt, in der eine Mischung aus Film und Theater die Zuschauer beeindruckte. Regisseur David Gerlach geht in seiner Inszenierung am HLTH einen anderen Weg. Er setzt ganz auf das facettenreiche Spiel von Sascha Oliver Bauer, der einen jungen Mann verkörpert, der an sich selbst ein Paket geschickt hat, um die Postbotin zu treffen, in die er verliebt ist. Es ist der armselige Versuch einer Kontaktaufnahme, um dem Alleinsein und der Einsamkeit zu entfliehen. Ein kleines Fenster in seinem Zimmer, hoch oben an der Wand, symbolisiert den Raum der Abgeschlossenheit und des Eingeschlossenseins, in dem der junge Mann mit seinen Hoffnungen und Sehnsüchten lebt.

Er wartet auf den Klingelton, der die Postbotin ankündigt. Die Zeit bis dahin füllt er mit einem Spiel um erste Worte und Sätze, um sie kennenzulernen. Das reicht vom einfachen „Hallo“ über Namen, ein Gespräch über das Wetter und die Kindheit bis zu tiefschürfenderen Themen und immer – das ist der Albtraum des schüchternen jungen Mannes – weiß er bereits, wie alles ausgehen wird, warum es nicht klappen wird, was die Postbotin antworten könnte, welche Fehler er machen und wie das erste Zusammentreffen im grauen Alltagsnichts enden wird. Heckmanns führt in komischen und sprachwitzigen Szenen vor, wie der Einsame um sich selbst kreist und sich so aus dem Bann seiner Einsamkeit nicht lösen kann. Der Titel des Stücks ist auch als Sprachspiel zu verstehen: Jemanden ansprechen ist für den jungen Mann wie Finnisch sprechen, das er natürlich nicht beherrscht. Außerdem erweckt der Titel Assoziationen zum englischen Wort finish. – Das Ende des Stücks lässt die Fragen, die der Text aufwirft, unbeantwortet. Denn als es wirklich klingelt, „fällt der Vorhang“.

Getragen wird Sascha Oliver Bauers lebendiges Spiel auch vom Pianisten Oliver Blüthgen, der in Stummfilmbegleitmanier den einzelnen Situationen kongeniale Töne und Melodien unterlegt. Durch das Klavierspiel enthält das Stück etwas Leichtes. Wenigstens auf der Ebene der Kunst, so scheint es, werden die kleinen Hoffnungen und Wünsche des jungen Mannes erfüllt.

Martin Heckmanns wurde 1971 in Mönchengladbach geboren. 2002 wurde er in der Zeitschrift Theater heute zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt. Für Finnisch erhielt er den Kulturförderpreis des Kreises Herford.

Der Hässliche von Marius von Mayenburg

Lette, der Hässliche Matthias Zeeb Fanny, seine Frau, u. a. Rollen Franziska Endres Karlmann, Lettes Assistent, u. a. Rollen Florian Federl Scheffler. Lettes Chef, u. a. Rollen Bastian Michael

Inszenierung und Ausstattung Uta Eisold Dramaturgie Michael Pietsch

Wer bin ich? Bin ich mein Gesicht? Wie wichtig ist das Aussehen eines Menschen? Woran macht sich Identität fest? – Diese und ähnliche Fragen nach dem, was einen Menschen ausmacht, stellt das Stück mit dem etwas plakativen Titel Der Hässliche. Lette wird mit einem Male – alles bricht wie aus heiterem Himmel über ihn herein – im Beruf wie zu Hause mit dem Vorwurf, ein „Hässlicher“ zu sein, konfrontiert. Er erkennt sofort, dass das seiner Karriere maßlos schadet. Wie also geht ein selbstbewusster junger Mann damit um? Welche Rolle soll und darf das Äußere in seinem beruflichen wie privaten Leben spielen?

Die Ereignisse überschlagen sich: Er unterzieht sich einer Schönheitsoperation, erhält ein völlig neues Gesicht, wird zum bestaussehenden Mann überhaupt, reißt für sich und seinen Betrieb alle Türen und Tore auf, so dass die Aufträge und Verkaufszahlen nur so in die Höhe schnellen, wird selbst zum Verkaufsschlager schlechthin. Aber es ist wie immer: Ruhm und Erfolg haben ihre Kehrseite. Andere kommen auf die gleiche Idee und bald laufen ihm immer mehr gesichtsidentische Männer über den Weg. Seine Frau ist „verwirrt“, weiß nicht mehr, mit wem sie verheiratet ist und wendet sich seinem schärfsten Konkurrenten zu, der mittlerweile auch durch eine Operation zu dem schönen Lette-Gesicht gekommen ist.

Als die Situation um Lette immer unübersichtlicher und chaotischer wird, weiß er nicht mehr ein noch aus. Es bleibt ihm nur eins: Er steigt ins 25. Stockwerk eines Hochhauses, um von dort hinunterzuspringen und seinem Allerweltsgesicht, zu dem es mittlerweile geworden ist, für immer zu entkommen. – Die Marburger Aufführung endet mit einem spannungsreichen Bild: Auf dem Dach des Hochhauses steht Lette, unten stehen Lette-Imitationen; alle tragen Lettemasken und sprechen mit sich selbst, als beschwörten sie falsche, leere Zauberformeln: ich, mich, und ich, oder wie, ich.

Uta Eisold hat aus von Mayenburgs origineller Sprach- und Spielvorlage eine temporeiche, oft komische, gelegentlich auch nachdenkliche, immer kurzweilige Aufführung gemacht, die den Schönheitsmassenkult unserer Tage vorführt und entlarvt. Sie führt den Text zu wahrhaft grotesken Höhen und scheut nicht davor zurück, Slapstick als Slapstick vorzuführen. Das Ensemble, dem ein Lob zu zollen ist, folgt ihr bedingungslos. Die Schauspieler spielen überdreht, verknäulen sich in aberwitzigen Verrenkungen – die Liebesszenen sind besonders komisch-absurde Nummern, die sportliche Höchstnoten verdienten, – schlüpfen in mehrere Rollen und machen dennoch oder gerade durch ihr verrücktes Spiel die Bodenlosigkeit und Identitätslosigkeit der Figuren, die ihr Gesicht dem Karrierestreben opfern, deutlich. Je grotesker und verwirrter alles wird, desto makabrer wird es. Die Schlussszene des Sprungs vom Hochhausdach ist da nur das konsequente Ende des absurden Spiels um Ich und Nicht-Ich, Hässlichkeit und Schönheit.

Marius von Mayenburg wurde 1972 in München geboren. Mehrere seiner Stücke wurden mit Preisen ausgezeichnet. Von Mayenburg arbeitet seit 1999 als Dramaturg und Hausautor an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, wo im Januar 2007 auch Der Hässliche uraufgeführt wurde.

Herbert Fuchs

 ©2000 - 2024 powered by roware.net link